90 SEKUNDEN MIT GABINO RODRIGUEZ
In «Tijuana» geht es um die Zeit, die Du undercover als Arbeiter im mexikanischen Tijuana verbracht hast. Was steckt dahinter?
«Tijuana» gehört zu unserem Projekt «Die Demokratie in Mexiko (1965 – 2015)», das insgesamt aus 32 Teilen besteht, einer für jeden mexikanischen Bundesstaat. Die Stadt liegt direkt an der US-amerikanischen Grenze und ist wirtschaftlich viel stärker mit den USA verbunden als mit Mexiko. Trotzdem werden die Arbeiter dort nach dem mexikanischen Mindestlohn bezahlt: 3,50 Euro pro Tag. Das ist sowieso schon unglaublich wenig, aber in einem Ort wie Tijuana mit seinen Verbindungen in die USA ist es noch absurder. Jenseits dessen geht es im Stück aber allgemeiner darum, wie Kunst sich mit sozialen Problemen auseinandersetzt. Denn wir sehen viele dieser Versuche ziemlich kritisch.
Was ist denn das Problem in Euren Augen?
Würde ich eher journalistisch arbeiten wollen, so ginge es bei «Tijuana» darum, etwas aufzudecken. Aber wir sind im Theater, und im Theater geht’s nicht um Aufdeckung und Wahrheit. Ist es nicht problematisch, eine falsche Identität anzunehmen und Leuten etwas vorzugaukeln, nur um daraus dann ein Kunstprojekt zu machen? Was ist schlimmer: Die armen Kollegen in der Fabrik zu belügen oder das Publikum in einem Raum, in dem die Lüge seit Jahrhunderten dazugehört? Denn die Vereinbarung im Theater war ja stets, dass die Dinge hier gerade nicht das sind, als das sie erscheinen. In einem Theater kann ein Typ auf eine Bühne springen und sagen: «Hi, ich bin Hamlet!» und jeder weiss, dass er eben nicht Hamlet ist. Doch in der jüngsten Theatergeschichte tauchen nun plötzlich Typen auf, die auf die Bühne springen und sagen: «Hi, mein Name ist Gene!» oder sowas. Und alle glauben ihm, dass er Gene heisst und auch wirklich Gene ist.
Wen stellst Du in «Tijuana» eigentlich dar?
Letztlich geht es im Stück um einen Schauspieler namens Gabino Rodríguez, der eine Figur namens Santiago Ramíréz er findet und mit dieser Identität für sechs Monate in einer Fabrik arbeitet. Aber im Grunde kann man nie das Leben eines Anderen leben, kann man nie die Perspektive der anderen einnehmen. Das geht nicht. Man kann sich in andere Kontexte begeben, aber es wird sich immer anfühlen wie ein langer Urlaub – man weiss, dass man die Sache jederzeit abblasen und in sein eigentliches Leben zurückkehren kann, wo man richtiges Geld verdient, am Theater arbeitet und um die Welt reist. Armut besteht im Kern aus dem Fehlen eines Horizonts für Veränderung. Und das können wir uns überhaupt nicht vorstellen. Aber im Theater nehmen sich Schauspieler_innen heraus, andere darzustellen und zu repräsentieren. Nur, wer gibt uns dafür eigentlich die Erlaubnis?
Interview: Dominikus Müller
Konzept, Spiel Gabino Rodríguez | Basierend auf Ideen und Texten von Günter Wallra, Andrés Solano, Martin Caparrós, Arnoldo Galvez Suarez | Ko-Regie Luisa Pardo | Lichtdesign Sergio López Vigueras | Szenografie Pedro Pizarro | Sounddesign Juan Leduc | Video Chantal Peñalosa, Carlos Gamboa | Künstlerische Zusammenarbeit Francisco Barreiro.
Das Gastspiel wird unterstützt durch den SüdKulturFonds und Swisslos Lotteriefonds des Kantons Solothurn.